Kriegende im Frühjahr 1945 (Hans Reimers)

Anette regte an, dass ich anlässlich des 8 Mai 2005 meine Erinnerungen aufschreiben könnte.
Diese Anregung kommt zwar etwas zu spät, da ich Einiges nicht mehr genau datieren kann.
Aber das ist ja auch nicht so wichtig. Ich habe meinen Wehrpaß über die Gefangenschaft hinweg gerettet, trotz aller Filzerei.
Lt. Wehrpaß wurde ich am 14.Mai 1943 beim Wehrbezirkskommando in Rendsburg gemustert.
Ich war damals 1 m 65 groß und schlank, wurde aber zeitlich untauglich bis zum 31.10. 1943 zurückgestellt.
Die normale Schulzeit war im Herbst 1943 zu ende.Im Juli 1943 war ich in die Klasse 8 versetzt worden.
Das 9. Schuljahr war gestrichen worden und die Unter- und Oberprima wurden in der Prima zusammengefasst.
Im Juni 1944 hätte ich mit 18 Jahren Abitur machen sollen. Es kam alles anders.
Ab 22. 9. 1943 war ich mit meinen Klassenkameraden Luftwaffenhelfer in Hamburg-Blankenese.
Ich hatte das Glück, dass ich nicht, wie andere Mitschüler, in einem Erdloch an einem Flakgeschütz saß.
Ich war im Flak-Auswertezug, in dem wir die Zielgenauigkeit der Flakbatterien überprüfen mussten.
Das entsprach meinen mathematischen Neigungen. Von einem Sportplatz am Rande von Blankenese peilten wir den Kirchturm an, um für die weiteren Messungen eine genaue Standortbestimmung zu haben.
An 2 Vormittagen hatten wir noch Unterricht. Der schloss am 11.2.1944 mit einem „Luftwaffenhelfer-Zeugnis“ ab.
Die Heimatschule in Elmshorn hat dann einen Stempel darunter geballert, mit folgendem Inhalt:
Dem Schüler wird auf Grund der nachgewiesenen Einberufung zum Wehrdienst gemäß Erlaß ….. die Reife zuerkannt.
Nach dem Krieg musste ich dann allerdings das Abitur am 21.6.1946 nachholen.
Vom 14.2.1944 bis 26.4.1944 war ich beim Arbeitsdienst in Großenbrode.
Im Wehrpaß ist vermerkt: Im besonderen Einsatz im Heimatkriegsgebiet im Rahmen der Luftwaffe.
Dort war ein Flugplatz und wir bastelten an der Verlängerung der Startbahn (selbst Gerüchte über die Raketen-Vergeltungswaffe V2, Vorstufe der Nuklearwaffen, machten die Runde). Dort hat mein Vater mich einmal an einem Wochenende besucht.Normal waren 6 Monate Arbeitsdienst, aber die Zeit wurde verkürzt, um den Fronteinsatz zu beschleunigen.
Ab 23.Mai 1944 war ich bei der Wehrmacht. zur Rekrutenausbildung in Bremen in der Stader Straße. Die Vereidigung war am 22.6.1944. Am 1.8. 1944 wurde ich zum ROB (Reserveoffiziersbewerber) ernannt, obwohl ich mich bei dem Sondierungsgespräch nach Meinung des prüfenden Offiziers blöd benommen hatte. Er hatte mich gefragt, warum ich Offizier werden wollte. Dabei hatte ich mich gar nicht darum gerissen sondern war vom Zugführer vorgeschlagen worden. So fehlten mir die ehrlichen Argumente, also wies ich darauf hin, dass ich das Abitur hätte. Nun war der Ofen aus und der Batterieführer stufte mich als überheblich ein. Bei einem Ausmarsch in den nächsten Tagen ließ sich der Führer des Zuges 2, Heinz Hillmann, auf meine Höhe zurückfallen und fragte mich: Na Reimers, was haben Sie gestern beim Chef für einen Quatsch erzählt. Aber machen sie sich man keine Sorgen. Mich haben sie auch schon mal nach Haus geschickt. Ich antwortete ihm, dass ich mich ja gar nicht beworben hätte und nach wie vor glaubte, dass der Zugführer mich wegen der Grütze unter der Mütze vorgeschlagen hätte. Mit Heinz Hillmann in Bremen haben wir noch heute Kontakt.Vom 1.12.1944 bis 15.2.1945 schickte man mich als ROB-Gefreiter auf den ROB-Lehrgang nach Celle in die Heide-Kaserne. Fast wäre ich dort als Oberfähnrich (Vorstufe vom Leutnant) entlassen worden. Aber dafür war ich doch zu unscheinbar. So ging ich als ROB-Gefreiter ab. Später begriff ich, dass das Schicksal es mit mir gut gemeint hatte, indem es mich Gefreiter bleiben ließ. Ein Stubenkamerad sagte mal von mir: „Der Reimers tut immer so, als ob er nicht bis fünf zählen könnte. Aber der hat es in sich“. Die frisch gebackenen Leutnants kamen zum Fronteinsatz in Ost oder West.. Wir aussortierten Gefreite wurden Hilfsausbilder in Munsterlager (Lüneburger Heide). Dort hatte ich tatsächlich einen Namensvetter, Hans-Werner Reimers (Jahrgang 1927) aus dem Heimatdorf Quarnstedt, in meiner Gruppe.Der ganze Verein wurde Ende Februar zur „frontnahen“ Ausbildung nach Mühlau bei Burgstädt, nordwestlich von Chemnitz, verfrachtet und die Rekruten des Jahrganges 1927 kamen in die Frontlinie östlich von Chemnitz. Über uns ROB-Gefreite konnte die Einheit in Mühlau bei Chemnitz nicht unmittelbar verfügen. So warteten wir in Taura auf Entscheidungen von außen. Die kamen von der anderen Seite. Anfang April rückten die Fronten von Ost und West immer näher. Am 11.4.1945 befreiten die Amerikaner die Häftlinge in Buchenwald bei Weimar. Vom Westen hörten wir an einem Morgen danach das Mahlen von Panzerketten. Wir, ein Unteroffizier und zwei ROB-Gefreite, standen am Ortsausgang Taura an der Straße Richtung Burgstädt. Da krachte 100 Meter vor uns eine Granate in eine Baumkrone. Das anschließende vernünftige Handeln verdankten wir dem Unteroffizier mit Kriegserfahrung. Für besondere Tapferkeit gab es den Pour-le-Mérite-Orden, den man sich um den Hals hängen konnte und der lt. Volksmund gegen Halsschmerzen gut sein sollte.
Er sagte uns: „ Falls einer von Euch beiden noch Halsschmerzen haben sollte, nun könnt Ihr dem Abhelfen. Ich bin froh, dass ich den Rußlandfeldzug heil überstanden habe. Für mich ist der Krieg zu ende. Ich habe mich umgeguckt und dahinten einen Keller entdeckt, dessen Tür nicht abgeschlossen ist. Dorthin gehe ich nun.“
Sprach es und verschwand. Und wir beiden Grünlinge trotteten hinter her. Bald wurde die Tür aufgerissen und „Hands up“ gerufen.. Ein Tag Mitte April 1945 ist das Datum meiner persönlichen Kapitulation. Ich hatte bis dahin keinen scharfen Schuss abgegeben, noch hatte jemand auf mich gezielt. Wir wurden gefangen genommen und mussten an einer Karawane von Panzern vorbei im Laufschritt 2 km nach Burgstädt laufen. Am Tag der Gefangennahme wurden wir Zeugen einer standrechtlichen Erschießung. Ein Junge (ca.14 Jahre), verhetzet durch die unsinnigen Anweisungen über den Rundfunk, hatte anscheinend in Burgstädt einen amerikanischen Soldaten erschossen.Er wurde aus einem Jeep gezerrt und mit einer Pistole vor unseren Augen erschossen. In Burgstädt haben wir ca. 14 Tage auf grüner Wiese auf dem nackten Boden kampiert. Im Laufe der Zeit bekamen die Oberschenkel blaue Flecken, die erst nach der Entlassung verschwanden. Ich habe den 20.4. (Führers Geburtstag) mehr in Erinnerung, als den Tag der Kapitulation, von dem wir nur durch Mundpropaganda erfuhren. Dafür wurde uns am 30.4. im Rheinland über Lautsprecher verkündet, dass Hitler tot sei. Der 20.4.1945 war ein sonniger warmer Tag. Wir lebten zwar nicht üppig und hatten immer Hunger. Aber die einmalige knappe Tagesration, in Büchsen aus amerikanischen Armeebeständen, bewahrte uns vor dem Verhungern. So machten wir schon unsere Witze darüber, dass wir Führers Geburttag mal so ganz anders erlebten. Gottlob wurden wir noch im April, also vor der Kapitulation, bei herrlichem Frühlingswetter auf offenen Militärfahrzeugen durch Thüringen an den Niederrhein in die Nähe von Wesel zu den Engländern verfrachtet, weg von den nahen Russen. Die wunderschönen Einblicke in die mitteldeutschen Landstriche nahmen wir kaum wahr. Dennoch wurde durch die Gemeinschaft mit anderen Leidensgenossen die Fahrt ins Ungewisse erträglicher. Die Bevölkerung am Wegesrand nahm uns sehr zurückhaltend wahr.Am Niederrein erwartete uns ein großes Areal auf grüner Wiese mit vielen unterteilten Lagerabschnitten hinter hohen Zäunen, doch die Nächte waren immer noch recht kalt.Wir, mein Kamerad Hermann Harten aus Hbg. Wellingsbüttel und ich, sind nächtelang wie siamesische Zwillinge herumgelaufen. Wir hatten unsere beiden Mäntel zusammengeknöpft und um uns geschlagen. Er wusste viel von den Sternen, die er mir erklärte, während unsere Körper nahe beieinander waren. Bei Tage und in der Wärme haben wir dann geschlafen. Am 18.7. 1945 wurde ich entlassen und von den Engländern in zwei Tagen nach Itzehoe in Schleswig-Holstein kutschiert. Von dort tippelte ich am 20.7.1945 unter Nutzung von Mitfahrgelegenheiten nach Quarnstedt. Meine Eltern hatten seit Ende März von mir kein Lebenszeichen.Mein Bruder war nach einem erfolgreichen 2. Fluchtversuch aus der Tschechei zu Fuß nach Willingen (Sauerland) zur Cousine getippelt und von dort im Juni per Anhalter nach Haus gekommen. Er hat meine Eltern nie gesagt, dass er mich zu der Zeit aufgegeben hatte, da er befürchtete, dass ich Dussel mich von den Russen nach Sibirien hatte verschleppen lassen. So ist es ja Mutters Vater Matthias ergangen. Den haben die Russen erst im Lager Auschwitz (da war ja Platz geworden) festgehalten und dann noch nach Sibirien transportiert haben Er kam erst im November 1947 nach Haus. Unsere Familie hatte mehr Glück als die unpolitische Nachbarfamilie Röpcke. Beide Söhne fielen im Krieg. Die Tochter erbte später den Hof.

Fazit: Ich habe in den Monaten des Kriegsendes nicht viel über die Zeitläufte philosophiert. Später habe ich allerdings häufig darüber nachgedacht, wie ich mit meinem Querdenken wohl als Erwachsener bei den Nazis klar gekommen wäre. Wir Davongekommenen, Mutter und ich, glauben aus den Geschehnissen vor mehr als 60 Jahren gelernt zu haben. Ob dem so ist, dass können die eigenen Kinder am besten beurteilen. Wir haben noch heute Kontakt mit der Familie Leo Chaunier in Frankreich. Leo überstand den Krieg auf einem Bauernhof in Rehren und lebte dort, zwar ohne Weinkeller, aber in einer ihm geläufigen Welt. Aber auch er war über fünf Jahre von seiner Familie getrennt. Der persönliche Kontakt wurde trotz unterschiedlicher Nationalitäten so eng, dass er auch nach dem Krieg nicht abriß. Wir, auch Anette, waren dort zu Besuch. Der Kontakt zu Leo beweist, dass die Menschen einander kennenlernen müssen, damit Vorurteile abgebaut werden, bzw. keine entstehen können. Aus der Rückschau ist erstaunlich, wie schnell wir die Zeit vor 1945 hinter uns gelassen haben. Ich vermute, weil wir ziemlich rasch wieder nach vorn blicken konnten.

Mit 20 Jahren hatte ich das Abitur. Auf dem Umweg über einige Monate unter Tage im Kohlebergbau habe ich mich dann dem praktischen und theoretischen Studium der Landwirtschaft gewidmet und hatte mit 23 Jahren, im Sommer 1949, bereits mein Diplom in der Tasche. Da ich nun einmal am Schreiben bin füge ich noch einige Zeilen an, die etwas Einblick in die damalige deutsche Volksseele geben.Die Juden wurden uns ja stets als der Abschaum der Menschheit dargestellt. Die Maschinerie der Judenvernichtung fing harmlos an und wurde durch den Krieg sicher beschleunigt. Ab 1938 mußten alle Juden in der Öffentlichkeit einen Davidstern tragen. Wir Schüler, gingen im Sommer 1938 in Elmshorn den Schulweg von der Schule zum Bahnhof, fröhlich plaudernd und lachend. Der Weg führt durch den Stadtpark. Plötzlich entdeckten wir auf einer Sitzbank einen älteren Herrn mit dem Davidstern an der Brust. Mit einem Schlag erstarb uns das Wort auf den Lippen und wir schlichen stumm und bedrückt vorbei. Dies Bild habe ich mir häufig vor Augen geführt und mich gefragt: Warum verstummten wir. Waren wir betroffen vom Schicksal des Menschen oder von der Begegnung mit dem „Abschaum“. Ich neige immer mehr dazu, es war Anteilnahme.So ganz anders verhielten wir Jungs uns , als 1940 der 1. feindliche englische Flieger mit Fallschirm bei Quarnstedt gelandet und verletzt auf einem Strohwagen durch das Dorf gefahren wurde. Die Frau vom Dorfschmied handelte menschlich und wollte teilnehmend dem Verletzten etwas zu trinken geben. Wir johlten und hatten kein Verständnis für die Frau, die aus meiner heutigen Sicht so vernünftig reagiert hatte. Mein Vetter Hermann Möller, von Haus aus ein weicher Typ, war bei der SS. Zeitweise war er Bewacher in Neuengamme. Als er uns 1942 einmal besuchte, hat er meinen Eltern flüsternd berichtet, wie es in dem KZ herging. Er konnte den Dienst dort nicht mehr ertragen und meldete sich freiwillig zum Fronteinsatz, um von dort weg zu kommen. Zum Schluss lasse ich Richard von Weizsäcker zu Wort kommen, der am 8.5.1985 seine Gedenk-Rede mit einem Wort an die jüngeren Deutschen schloss.

Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen.
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah.
Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit.
Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen,
ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist.
Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.
Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land!
Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet.
Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.
Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß
- gegen andere Menschen,
- gegen Russen oder Amerikaner,
- gegen Juden oder Türken,
- gegen Alternative oder Konservative,
- gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge