Kriegsende im Frühjahr 1945 (Gisela Reimers)

Ich war im Dezember 1944 17 Jahre alt geworden und ging in die Obersekunde (6. Klasse) der Oberschule in Bückeburg.
Das bedeutete täglich frühmorgens ca. 5 Uhr 30 im Dunkeln nach Haste mit dem Fahrrad, da am Tag jede Bewegung der Loks, bzw. Züge fast immer einen Beschuss durch Tiefflieger zur Folge hatte. Der Zug fuhr um 6 Uhr morgens.
Nach Bückeburg sind es 30 km.Am Abend kam der Zug zwischen 21 Uhr und 21 Uhr 30 von Bückeburg nach Haste zurück, so dass ich etwa um 22 Uhr zurück war. Zu Hause, das waren zu der Zeit unsere Mutter, Marianne, die französischen Kriegsgefangenen Leo und Etienne und die Ukrainerin Maruschka. Unser Vater war Soldat und hielt sich im östlichen Sachsen auf. Für mich persönlich war die Situation nicht ganz einfach. Heute weiß ich, dass ich in ständiger Unsicherheit lebte. Morgens, es war noch dunkel, liefen auf den Landstraßen Fremdarbeiter herum, die, unerlaubterweise natürlich, ihre Arbeitstelle bereits verlassen hatten und sich plündernd in der Gegend herumtrieben. Sobald sie in den Besitz von Waffen gelangten, setzten sie die auch ein, um Nahrungsmittel zu erpressen oder Menschen zu bedrohen. Ich hatte eines Tages im Februar morgens auf dem Weg nach Haste den Schreck, dass zwei bewaffnete Männer über die Straße liefen. Es war noch sehr dunkel. Damit sie mich nicht genau erkennen konnten, machte ich das Fahrradlicht aus und fuhr im Zickzack weiter. Es passierte weiter nichts.
Aber diesen Vorfall habe ich zu Hause nicht erzählt, um unsre Mutter nicht noch mehr zu beunruhigen, da sie sowieso immer wegen Tieffliegerbeschusses besorgt war. Bei den Bahnfahrten ging es zu wie beim russischen Roulett. Die Tiefflieger beschossen nicht nur die Loks und fahrenden Züge, sondern auch die Reisenden, die sich nach dem Halten des Zuges, je nach Angriffsrichtung der Tiefflieger, in die Gräben an der linken oder rechten Seite der Gleise flüchteten, aber beim Wenden der Flugzeuge schnell zur anderen Seite wechseln mussten. Meine tägliche Strecke war Teil der Route Köln-Berlin und darum besonders gefährdet. Ende Februar/Anfang März tauchte bei uns ein ca. 30 jähriger Offizier auf. Angeblich hatte er einen Sonderauftrag. Zu der Zeit hatten die Alliierten den Ruhrkessel schon fast geschlossen und die Front war 200 bis 300 km entfernt. Der Offizier redete täglich davon, dass er am nächsten Tag Richtung Front weiter müsste. Er blieb 10 bis 12 Tage und verschwand so plötzlich wie er gekommen war. Hinterher war mir klar, dass er desertiert war und sich bei uns versteckt hatte.
Als der Ruhrkessel endgültig geschlossen war, konnten wir bei Westwind hin und wieder die Front hören, und die Tiefflieger beschossen Oma und Tante Marianne beim Kükenfüttern im Hühnergarten und natürlich auch die Arbeiter in der Feldmark. Wegen der ständigen Luftangriffe auf Hannover kam es im Gebiet um Rehren zu sogenannten Notabwürfen. Sobald die Flak auf die Bomber schossen, warfen die den Rest ihrer Ladung an Bomben und Phosphorbomben schnellstens ab.
So konnte ich die Bombe schon in großer Höhe kommen sehen, die uns gegenüber in Reese-Lattwesens Haus einschlug und es in Flammen aufgehen ließ,. Es war an einem Sonntagmorgen. Der Angriff erfolgte um 11 Uhr bei klarem Frühlingswetter. Ich stand in der offenen Haustür, die zu der Zeit ständig benutzt wurde. Die Wohnzimmertür war geöffnet. So konnte ich ein seltsames Schauspiel beobachten. Bei der Explosion bogen sich die vielen Scheiben der Wohnzimmerfenster wie ein halber Luftballon nach innen und zerplatzen dann mit enormem Knall. Die Bombe war 15 m entfernt in Reeses Stall gefallen und hatte alles in Brand gesetzt. In Nordbruch brannten an dem Tag zwei Bauernhöfe ab, verursacht durch eine Kette von Phosphorbomben. Ich musste als Angehörige der Ortsfeuerwehr mit löschen und Brandwache halten. Als alles gelöscht war, kam aus der Kreisstadt Rinteln der „Kreisleiter“ der NSDAP in seiner braunen Uniform mit seinem PKW angefahren und brachte für die Einsatzkräfte Schnaps. So sollte man wohl auf Linie gehalten werden. Der Tischler setzte dann in unser Wohnzimmerfenster statt einer großen Scheibe zwei halbe ein, so dass in der Mitte ständig Zugluft herrschte. Das blieb so, bis im Juni 1948 die DM kam. Danach endlich hatten wir wieder normale Scheiben in den Wohnstubenfenstern.
Im März 1945 wurde es immer unruhiger. Die Zahl der marodierenden Fremdarbeiter, vor allem Polen und Ukrainer, nahm ständig zu und wir waren froh, dass Leo bei uns war. Der ließ alle abblitzen, die abends in die Scheune kriechen wollten, um dort zu übernachten. Als Franzose wurde er respektiert. Man musste ständig befürchten, dass die Häuser aus Wut angezündet wurden. Mit Leo hielten auch Etienne und Maruschka völlig loyal zu uns. Sie beschützten uns, indem sie der Familie Matthias einen guten Leumund bescheinigten. Die Straßen waren in den letzten Wochen voll von Soldaten. Die einen zogen gen Westen, die anderen gen Osten. Für uns war in diesem Hin und Her kein Sinn mehr erkennbar. Auf Onkel Heinrichs Hof und auf unserem lagen über Nacht oft ganze Kompanien, die abends auch noch abkochten. Am Samstag, 07.04.1945 kam abends Onkel Steege ins Haus und sagte auf Platt zu unserer Mutter: Sophie, eck feure nea Sassenhän an Kaneal. Do schall en Schipp mit Zucker liggen, eck bringe Deck eok wekken mie. Zu der Zeit, es war wohl zwischen 20 und 21 Uhr, war die Artillerie ganz deutlich zu hören. Ich vermute, die Front war zwischen Bückeburg und Stadthagen. In diesen Tagen war Bürgermeister Onkel Steege besorgt, dass die Kanone aus dem 1. Weltkrieg auf dem Kriegerdenkmal dem Dorf Ärger bereiten würde. Er ließ sie im Morast des Haster Waldes versenken. Sie ist nie wieder aufgetaucht.Am Sonntag, 08.04.1945, hörten wir den ganzen Morgen das Rasseln von Panzerketten. Gegen 11 Uhr rückten die ersten Panzer ins Dorf. Dann, ab 12 Uhr, folgte ein Panzer dem anderen. Offenbar rechneten sie nicht mehr mit Widerstand, denn die Einstiegsklappen waren offen und die Panzersoldaten guckten heraus: Später saßen sie auch auf den Fahrzeugen. Die Dorfbewohner hatten weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt und standen alle vor den Häusern. Geschossen wurde ja nicht mehr. In dieser Situation verbreitete sich ein Gerücht wie ein Lauffeuer: Auf dem Mittellandkanal liegen zwei Schiffe mit Nahrungsmitteln, Zigaretten und Zigarren. Gern wäre man mal hingelaufen und hätte sich etwas geholt. Aber es war ein ziemlich langer Weg von ca. 3 und man musste an dieser grässlichen Panzerkette vorbei, die von Ottensen ständig nach Haste fuhren. Schließlich hatten wir unsere Mutter überzeugt und durften los, Mariechen und Hilde Gerland, Marianne und ich. Wir hatten lächerlich kleine Einkaufstaschen mitgenommen, darüber haben wir später häufig gelacht. Als wir an der Auhäger Brücke ankamen, war die „Einkaufsschlacht“ bereits im vollen Gange. Man musste auf einem schmalen Brett zum Schiff balancieren. Sollte jemand bepackt mit „Einkaufsgut“ vom Schiff kommen, hatte man Platz zu machen und zu warten. Es war so eng, dass unsere stabile 3 Ztr.Hebamme, „Schüttenmutter“, bereits eine Kanaltaufe hinter sich hatte. Nachdem wir vier mehrere Raubzüge hinter uns hatten, postierten wir unsere kleineren Schwestern als Wachpersonal bei den bereits requirierten Waren und gingen allein zum Fechten. Die Kleinen, so nannten wir unsere jüngeren Geschwister immer, konnten uns die Sachen bereits am Balance-Brett abnehmen. Das war viel rationeller. Unser Stapel am Waldesrand wuchs und wuchs und das Schiff wurde zunehmend leerer. Schließlich schickten wir die Kleinen mit dem Auftrag nach Haus, Leo mit dem Einspännerwagen und mit Decken zum Abdecken kommen zu lassen. Etwa um 17 Uhr am 08.04.1945 hatten wir die Fuhre in der Scheune, nachdem wir zuvor an Amerikanern vorbeigefahren waren, von denen nur ein kleiner Trupp im Dorf verblieben war. Wir waren vergnügt, weil uns der Raubzug geglückt war. Die Besetzung durch feindliche Truppen geriet dadurch etwas in den Hintergrund. Nun gab es erst mal einen Sekt für alle und Zigarren für die Männer. Am Abend waren beide Franzosen beschwipst. Schließlich hatten sie auch einen Sieg gefeiert. Ich weiß heute noch, dass wir damals für uns etwa 10 000 Zigarren und 24 000 Zigaretten, 6 große 5kg-Dosen Rohkaffee, 1 kleine Tonne Butter, etliche Flaschen Schnaps, Deutschen Sekt und noch andere Waren aus dem Schiffsbauch herausgeschleppt hatten. Die Zigaretten lagerten wir unter dem Häckselfutter für die Pferde, die meisten Zigarrenkisten lagerten später im Klavier. Leo hatte oben auf dem Heuboden ein Versteck gemauert, in dem der Kaffee landete.Am Montag gab der Gemeindediener mit der Klingel bekannt, dass alle Güter aus dem Schiff abzuliefern seien. Also mussten wir mit Kontrollen rechnen und alles verstecken. Einiges haben wir tatsächlich geopfert, doch das meiste haben wir behalten. Vor allem die Zigarren wollte unsere Mutter für unseren Vater verwahren. Die waren ja so schön trocken gelagert, dass er nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft im November 1947 noch etliche geraucht hat. Einige Tage später lösten die Engländer als ständige Besatzungstruppen die Amerikaner ab, und wenige Wochen später wurde in Bad Oeynhausen das britische Hauptquartier eingerichtet. Die Landkreise bekamen Besatzungsstellen, von denen aus die verschiedenen Orte beaufsichtigt wurden.. Bei uns war der Stützpunkt in Bad Nenndorf. Die Engländer besetzten das Kurhaus mit den übrigen Kuranlagen, ließen die Badewannen mit Zement voll gießen, darauf kamen dann Matratzen. Ringsherum zogen sie einen Zaun und an Stellen, die unbeobachtet bleiben sollten, mannshohe Mauern. Etwa bis 1950 blieb dieser Zustand erhalten. Vorübergehend wurden in diesem Areal auch die Gefangenen untergebracht. So war Onkel Siebürger aus Ottensen (Kreisbauernführer) dort in Bad Nenndorf mehrere Monate inhaftiert, bis er in das Senne-Lager am Südrand des Teuteburger Waldes verbracht wurde. Dort hatten die Briten in ihrer Besatzungszone das größte Gefangenenlager eingerichtet. Von Bad Nenndorf aus wurde auch ab 22 Uhr 30 mit Jeeps die nächtliche Ausgangssperre kontrolliert. Diese Kontrolle war ausgesprochen lax. Hier muss erwähnt werden, dass der Frust über das Kriegsende mit den damit verbundenen Enttäuschungen bei der Jugend eine unbeschreibliche Tanzwut auslöste, so dass bereits im Sommer 1945 fast in jedem Dorf am Mittwoch und Samstag Schwof war. Schon ein Akkordeonspieler reichte in vielen Fällen, um den Nachholbedarf. der vergnügungssüchtigen Jugend zu decken. Wenn wir dann nach 22 Uhr 30 vom Tanzen in Nordbruch nach Hause gingen, konnten wir schon ein Autolicht vom Beckedorfer Berg Richtung Ottensen kommen sehen. Das war der Jeep, andere Autos gab es nicht. Kichernd und lachend versteckten wir uns in Friedhofsnähe hinter Bolten Scheune. Sobald der Jeep Richtung Nordbruch verschwand, setzten wir unseren Heimweg fort. Die ehemaligen Gefangenen und Fremdarbeiter der Deutschen waren fast den ganzen April über noch bei uns. Die Franzosen sammelten sich erst in Stadthagen, nachdem die Züge wieder fuhren. Wenn ich mich richtig erinnere, musste Maruschka sich in Wunstorf einfinden. Ob sie je wieder bei ihrer Mutter in Schepetowka gelandet ist, haben wir nie erfahren. Unser Vater hatte übrigens als Soldat in Russland Kontakt zu Maruschkas Mutter. Die musste sich einmal in der Woche ein Brot und Salz(!!) abholen und bekam die Briefe der Tochter ausgehändigt, die zuvor von Rehren an Vater Matthias Feldpostnummer geschickt waren. Seit 1948 hatten wir mit Leo wieder Verbindung. Sie ist danach nie abgerissen, vielmehr durch mehrere Besuche gefestigt worden. Ab Mitte der siebziger Jahre sind wir häufig dort gewesen, einmal mit Tante Marianne , einmal mit Oma und mehrfach Vater und ich, sogar Anette und Nele. Inzwischen sind Leo und seine Katherine (Originalton Leo: DieseFrau große Schnauze, aber gut) verstorben. Zu Etienne dagegen, er kam aus der Nähe von Nantes, hat es nie eine Verbindung gegeben. Auch auf Leos Briefe hat er nicht geantwortet. Leo war in Bellerive bei Vichy zu Haus. Er machte seinerzeit bei uns in Rehren einen Vorschlag, wie künftig Konflikte ausgetragen werden könnten. Mitten im Dorf hatten wir die Bünthewiese. Dort sollten Hitler, Stalin, Roosevelt und Churchill , jeder mit einem Knüppel bewaffnet, aufeinander eindreschen, und alle anderen sollten Zuschauer sein.Als die ausländischen Hilfskräfte den Hof verließen, kam für unsere Mutter eine unruhige und sorgenvolle Zeit. Es gab nun keinen Mann mehr im Haus für den Umgang mit den Pferden und wir beiden Mädchen waren noch keine vollwertige Arbeitskraft. Aber irgendwie lief es sich dann doch zurecht. Ein älterer Pole meldete sich über das Arbeitsamt und auch ein junger, ostpreußischer Kriegsentlassener blieb bei uns, so dass die Arbeit mit den Pferden und das Melken wieder klappte. Seit Ende März hatten die Schulen geschlossen. Das bedeutete, dass das Schuljahr insgesamt wiederholt werden musste. Ich lernte in dem Sommer so einiges in der Landwirtschaft: Rüben verziehen, Heu machen, Garben binden, Kartoffeln sammeln, Rüben köpfen und aufladen und immer wieder melken. Erst im Januar 1946 begann das neue Schuljahr. Später, während der Hauswirtschaftslehre, wurde mir zum Glück das ¾ Jahr in elterlichen Land- und Hauswirtschaft als 1.Lehrjahr anerkannt. Eine Story von Schwester Helene ist noch erzählenswert. Wir hatten seit 1941/42 eine sogenannte „Braune Schwester“, die nicht nur eine braune Schwesterntracht trug, sondern auch innerlich fanatisch braun war. Im Dorf war sie ziemlich unbeliebt. Ende März 1945 traf ich beim Brotholen im Bäckerladen Bruns mit ihr zusammen und ich grüßte mit “Guten Tag“. Da herrschte sie mich an. „Das heißt „Heil Hitler“. Nachdem die Front uns überrollt hatte, traf ich sie eines Tages im Dorf und ich rief laut „Heil Hitler, Schwester Helene“. Da sprang sie vom Rad, legte die Finger auf die Lippen und schimpfte mich wegen meines Leichtsinns aus. Ihr bereits seit Jahren fertiggestelltes Siegeskleid, von dem sie immer sprach, hat sie zu dem gedachten Anlaß nie mehr anziehen können. Aus Rehren war sie dann auch bald verschwunden. Zeitungen gab es seit Ende April nicht mehr, aber erstaunlicherweise funktionierten noch immer über Radio die Reichssender mit ihren Nachrichten. So erfuhren wir am 30.4. von Hitlers Tod, aber natürlich in der Version von seinem Heldentod. Danach fiel er im Kampf um Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt waren die Russen in Berlin und meines Wissens kamen nun die Nachrichten aus Hamburg. Dabei ging es immer um Frontverläufe, um größere Widerstandsnester, um Brücken über die Elbe, aber auch um den letzten Oberbefehlshaber Dönitz und seine Offiziere. Die hielten sich in der Nähe von Flensburg auf. Die Nachrichten wurden immer spärlicher. Erstaunlich war für mich die Tatsache, dass die Engländer noch einen ganzen Monat gebraucht hatten, um in Hamburg einzumarschieren. Dank eines überlegt handelnden Stadtkommandanten wurde Hamburg gegen den Willen des Gauleiters Kaufmann zur Freien Stadt erklärt und qm 3.5.1945 kampflos übergeben.. Das Kriegsende am 8.5.1945 bekamen wir über Radio mit. Die englischen Besatzer bei uns im Dorf verhielten sich zurückhaltend und korrekt. Ihre LKWs und Jeeps standen meistens in der Nähe der Dorfmitte bei Tegtmeiers und Großen Matthias. Panzer kriegten wir nie wieder zu sehen.